Wenn die gewohnte Welt aus den Fugen gerät

Im großen Spiel der Wirklichkeit ist ein Zufallsgenerator eingebaut,
ohne den Leben und vor allem Willensfreiheit letztlich undenkbar wären.

 

Schwarzer Schwan

„Schwarze Schwäne“ nennt der libanesische Mathematiker, Philosoph und Börsenhändler Nassim Nicholas Taleb unwahrscheinliche Ereignisse, die dennoch viel häufiger auftreten, als uns die Statistik glauben macht.

Vorbemerkung

Bitte erwarten Sie hier keinen platten Text über Krise als Chance. Ich bin kein Zyniker und es liegt mir fern, diejenigen zu vergessen, die unter Krisen zuerst und am schlimmsten leiden. An diese sollten wir immer auch zuallererst denken, wenn wir von Chancen reden.

In Zeiten, in denen alte Systeme nicht mehr funktionieren und neue noch nicht etabliert sind, leben wir jedoch tatsächlich in einer Welt, die von ungewohnten Gesetzen beherrscht wird und in der unerwartete Türen aufgehen können.

Warum in Krisenzeiten meist das Unvorhergesehene geschieht

Es gab eine Zeit, da glaubten die gescheitesten Köpfe Europas – den Rest der Welt konnten sie nie wirklich davon überzeugen – dass das Universum wie ein sehr, sehr großes und sehr, sehr kompliziertes Uhrwerk funktioniert. Die Planetengesetze zeigten uns doch eindeutig, dass ein Ereignis, wie z.B. eine Sonnenfinsternis, schon Jahre im Voraus berechnet werden konnte, und mit verblüffender Präzision genau zum vorbestimmten Zeitpunkt eintraf. Die moderne Naturwissenschaft war geboren und das immer größer werdende Wissen über Sonnen- und andere Systeme machte die Europäer mächtig. Sie holten die Himmelsmechanik auf die Erde und bauten damit  Maschinen, die sie immer schneller und weiter trugen. Es schien nur eine Frage der Zeit, bis wir so viel wissen würden, dass wir die Geschicke der Menschheit sicher in den Griff bekämen.

Aber überall dort, wo Leben im Spiel war, funktionierte die Logik der Mechanik nur mit Zwang und Kontrolle. Oft versagte sie ganz. Trotzdem glaubten sie weiter daran, das auch in der Sphäre des Lebendigen die gleichen ehernen Gesetze gelten, die uns die Macht geben, Ereignisse vorauszusehen und zu steuern. Tatsächlich gelingt es auch immer wieder Inseln der Stabilität zu schaffen und die Welt für eine gewisse Zeit berechenbar zu machen. Aber wir bezahlen dafür einen hohen Preis. Es funktioniert nur, wenn wir das ignorieren, was stört. Wenn das Ignorieren nicht mehr gelingt, müssen wir das Irritierende leugnen oder aus dem Weg räumen. Eine künstlich stabilisierte, ist daher immer auch eine gewalttätige Welt.

Gleichzeitig halsen wir uns eine Sisyphus-Aufgabe auf. Unsere Systeme und Pläne werden ständig von einer Vielzahl unerwarteter Ereignissen bedroht. Deren Eintreten mag für sich alleine betrachtet noch so unwahrscheinlich sein. Wenn ein Ereignis mit 50 % Wahrscheinlichkeit nur alle 100’000 Jahre auftritt, braucht uns das nicht zu kümmern. Wir kennen jedoch die Zahl der möglichen Ereignisse gar nicht, die einen Einfluss auf die Entwicklung unserer Systeme haben. Daher können wir sie auch nicht berechnen. Die Zahl geht wahrscheinlich gegen unendlich und daher tauchen immer wieder unvorhersehbare Effekte auf. Sie drängen sich unablässig durch die unvermeidlichen Ritzen unserer wohl berechneten Behausungen. Unberechenbar in ihrer Bahn wie Kometen, bringen sie unsere sorgfältig gebaute Welt aus den Fugen.

Warum unsere Handlungen nun plötzlich bedeutsam werden

Unsere Entscheidungen haben normalerweise wenig Einfluss auf den Lauf der Welt. Das zu sehen und zu akzeptieren kann uns bescheiden und demütig machen.  Wenn sich unsere Handlungen gegen bestehende Ungerechtigkeit richten, kann die fehlende Wirkung jedoch auch demotivieren und deprimieren. Alle Aktivitäten, die dem Lauf der großen Maschine schaden, können in stabilen Zeiten mühelos heraus gefiltert und neutralisiert werden.

In Umbruchzeiten herrschen jedoch andere Gesetze. Das Chaos übernimmt das Zepter, die Zeit der schwarzen Schwäne bricht an. Wir spüren in solchen Momenten, dass sich irgend etwas in der Atmosphäre verändert und unvermittelt werden wir zu aktiv handelnden Subjekten der Geschichte. Jetzt kann der Flügelschlag eines Schmetterlings in Kleindöttingen tatsächlich einen Sturm in Tokio auslösen; eine Idee, ein Posting, ein Projekt kann die Welt für immer verändern. Wir erleben uns plötzlich als Teil einer vitalen Bewegung. Gelingen und Scheitern sind nur noch durch einen rasierklingenscharfen Grat voneinander getrennt. Das kann Angst und Panik, aber auch einen unglaublichen Energieschub erzeugen, der Menschen zu außergewöhnlichen Taten beflügelt. Es kommt natürlich auch jetzt nicht „auf jeden Einzelnen“ an. Aber es ist auch nicht mehr vorhersehbar, auf wen es ankommen wird und auf wen nicht.

Wenn wir auf der Suche nach berechenbaren Zuständen sind, orientieren wir uns an der Vergangenheit. In Umbruchzeiten ist es jedoch sinnvoller Kreativität und Imagination zu nutzen.

Warum wir heute viel mehr Möglichkeiten haben, Krisen kreativ zu bewältigen

In den letzten dreißig Jahren wurde unsere Arbeitsweise immer agiler. Die Konzerne konnten von flexibleren MitarbeiterInnen und selbstorganisierten Einheiten ungemein profitieren. Sie haben ihre Strukturen effizienter und Hierarchien flacher gemacht. Viele von uns haben neue Arbeitsweisen aktiv gesucht, weil sie unserem Bedürfnis nach freieren Zeiteinteilung und Mitgestaltung entgegen kamen. Wir haben dafür jedoch einen hohen Preis bezahlt. Erschöpfungsdepressionen und Suchtmittelkonsum haben in der Arbeitswelt deutlich zugenommen. Selbstbestimmtes Arbeiten innerhalb von fremdbestimmten Strukturen lässt sich auf Dauer nur schwer vereinen. Der vermeintlich gute Job wurde auch für erstklassig ausgebildete Menschen immer öfter zum goldenen Käfig.

Wir haben aber in den letzten Jahrzehnten definitiv gelernt anders zu arbeiten. Projekt-orientiert und selbstverantwortlich können wir mit einer Vielzahl von Menschen kommunizieren und selbständig frei gewählte Ziele ansteuern. Diese Fähigkeiten und vor allem auch die technischen Hilfsmittel dazu hatte die Menschheit in früheren Krisen nicht. Projekte auf hohem professionellen Niveau mit wenig oder gar keinem Eigenkapital zu realisieren, wie uns das z.B. die Open-Source Bewegung vorlebt, wäre damals schlicht undenkbar gewesen.

Warum schon eine neue Welt durch die Ritzen schimmert

In Umbruchzeiten werden neue Bewertungsmaßstäbe entwickelt und Karten neu gemischt. Viele Initiativen die vereinzelt entstanden sind und manchmal etwas verbissen und isoliert an einer besseren Welt gebastelt haben, werden plötzlich relevant und neue Zusammenhänge können sichtbar werden. Projekte wachsen zusammen und entwickeln ungeahnte Synergien. Dieses Zusammenwachsen von scheinbar Unverbundenem zu einem neuen und überraschenden Bild nennt man in der Systemtheorie „Emergenz“.

Emergenz

Aus scheinbar unzusammenhängenden Punkten entsteht plötzlich das Bild eines Dalmatiners im Schatten eines Baumes

Permakultur, Komplementärwährungen, Open-Source, Cohousing, Solidarwirtschaftsprojekte, Carsharing, New-Work und viele weitere alternative Ansätze kommen heute als Kandidaten für ungewöhnliche Hochzeiten und Familiengründungen in Frage. Bis es soweit ist, können wir über die neuen Formen nur spekulieren. Sind sie erst einem etabliert, wundern wir uns, warum wir das Muster nicht schon früher als folgerichtig – ja sogar unausweichlich – erkannt haben.

Warum wir mehr spielen sollten

Wer das Bild jedoch ängstlich oder verkrampft betrachtet, wird keinen Dalmatiner entdecken. Emergenz braucht einen entspannten Blick, einen spielerischen Zugang. Dazu möchte ich Sie einladen: Erfinden Sie unwahrscheinliche Geschichten die einen Beitrag zur Lösung der aktuellen Krise liefern. Geschichten, die aus der Rückschau plötzlich plausibel,  ja sogar folgerichtig und fast unausweichlich klingen können und teilen Sie diese mit anderen.

Dieser Artikel ist 2008 entstanden als Reaktion auf die damalige Wirtschaftskrise, als die Angst vor dem totalen Zusammenbruch des Zahlungsverkehrs umging. Da viele Aspekte auch gut auf die Corona-Krise passen, veröffentliche ihn hier leicht überarbeitet erneut.