Die Zeit der großen Erzählungen sei vorbei, hört man von vielen Seiten. Aber wem nutzt das eigentlich? Die Zukunft entsteht ja vielleicht aus vielen kleinen mutigen Erzählungen, die sich eines Tages – wenn die Zeit reif ist – zu einem großen lebendigen Attraktor bündeln. 

 

Welt im Umbruch

Unsere Welt befindet sich unbestrittenen im Umbruch. Die Stichworte sind bekannt: Klimawandel, steigende Ungleichheit, Digitalisierung, Grenzen des Wachstums, Artensterben usw. — Wahrscheinlich werden wir im Rückblick erkennen, dass in unserer Lebenszeit eine Epoche zu Ende gegangen ist.

Viele sprechen in diesem Zusammenhang vom Ende des Industriezeitalters. Darüber wie das anschließende Zeitalter genannt wird, gibt es noch keinen Konsens.

Keine Alternative zu haben ist keine Lösung

Umbruchzeiten erkennen wir immer auch an einer Zunahme von Weltuntergangs-Szenarien. Tatsächlich erleben wir im Moment eine Inflation an Dystopien. Die Dimension Zukunft ist dramatisch zusammengeschrumpft. Was übrigbleibt ist mehr vom gleichen „There is no alternative“ und „Veränderung“ und „Bewegung“ als Leerformel.

Ich beschäftige mich seit mehr als 20 Jahren mit dem Thema „Veränderung“ sowohl im individuellen, im organisationalen und im kulturellen Bereich. Veränderungsprozesse an sich sind auf allen diesen Ebenen gut erforscht.

Wir brauchen Attraktoren

Ein erster wichtiger Punkt: Es gibt keine positive Veränderung ohne ein attraktives Ziel. Martin Luther King hat das sehr genau gewusst als er mit seiner Rede „I have a dream“ ein Bild schuf, das zu einem kraftvollen Attraktor für die politische Freiheit der Afroamerikaner wurde.

Was wir heute dringend brauchen, ist ein attraktives Bild für die Epoche, die dem Industriezeitalter folgen soll, zusammen mit einem Narrativ, das einen gangbaren Weg dorthin beschreibt. Um einen gesellschaftlichen Wandel zu bewirken, muss diese Erzählung eine große Mehrheit der Menschen positiv berühren. Das ist nur möglich, wenn unterschiedliche Personengruppen in ihren ganz konkreten Lebenssituationen in eine große Erzählung eingewoben werden. Gleichzeitig muss das Narrativ so konsistent sein, dass sich daraus widerspruchsfreie konkrete politische Forderungen abgeleitet lassen.

Viele Punkte dieser neuen großen Erzählung sind heute schon in verschiedenen Subkulturen und auch in einzelnen politischen Forderungen sichtbar. Der Moment der „Emergenz“, des Heraustretens eines motivierenden Gesamtbildes aus den bisher unzusammenhängenden Punkten, ist auf kollektiver Ebene jedoch noch nicht eingetreten.

Der Raum der Verwirrung

Mein Eindruck ist, dass wir uns kollektiv gerade aus dem „Raum der Verleugnung“, in dem wir glauben, wir könnten mit kleinen Adaptionen so weitermachen wie bisher, in den „Raum der Verwirrung“ hinein bewegen. Es stehen große Veränderungen an und das macht naturgemäß Angst.

Dieser Angst gilt es etwas entgegen zu setzen. Das Ende einer Epoche kann auch als Chance zum Besseren beschrieben werden. Wir können das Bild einer entschleunigten Welt entwerfen, in der wir mehr Zeit für Wesentliches haben und weniger gehetzt sind. Eine Welt in der es – wie es Gandi formulierte – „enough for everyone’s needs, but not everyone’s greed,“ gibt, könnte für uns alle tiefer, vielfältiger und lebenswerter sein. Es gibt die Vorstellung einer lebenswerten Welt jenseits der Megamaschine, in die wir hinein geboren wurden.

Wir sind alle aufgerufen

Die Erzählung, von der ich hier spreche, wird wahrscheinlich nicht in einem Zentrum entstehen und sich von dort ausbreiten. Wir können sie auch nicht von den bestehenden politischen Parteien und Akteuren erwarten. Die Formate und Events in denen sich das Bild einer lebenswerten Zukunft für eine neue Epoche langsam verfestigen kann, sind vielfältig und teilweise schon seit vielen Jahren präsent. Wir alle sind dazu aufgerufen, ab und zu unsere Köpfe zusammenstecken und mit den Bildern, die unsere Zukunft sein könnten, zu ringen.

Veränderungsprozesse

„Raum der Verleugnung“,und „Raum der Verwirrung“ werden im Artikel „Die vier Räume der Veränderung“ näher beschrieben.