Die Füllhornkasse
Mit der Idee der Füllhornkasse habe ich (Thomas Diener) 1993 den „Förderpreis für Innovative Ideen im Sozialbereich“ der Stadt Zürich gewonnen. Aus der Distanz von mehr als 25 Jahren sehe ich den Text mit anderen Augen. Die jugendliche Radikalität des Vorschlages, die gewisse Naivität, der pathetische Tonfall; das alles würde ich heute anders gestalten. Trotzdem ist es nicht nur die nostalgische Regung eines bald Sechzigjährigen, ihn hier nochmal zu veröffentlichen. Vieles davon ist durchaus noch gültig und einiges vielleicht heute sogar umsetzbar.
Das Projekt beschreibt eine ganzheitliche Sozialversicherung, die auf den drei Säulen: Subsistenz, Ökologie und soziokulturelle Energie aufbaut. Meine damalige Einleitung:
Das Gefüge unsere traditionellen Sicherheitsvorstellungen gerät langsam aus den Fugen. Chaotische Turbulenzen deuten darauf hin, dass das System unserer Sozial- und Sachversicherungen an einen Punkt gelangt ist, wo Alternativen nötig und möglich werden. Ich möchte mit dieser Seite einen Beitrag zu dieser Diskussion leisten.
Diese kurze Abhandlung gliedert sich in drei Teile:
1. Teil
Einleitung
- Die Idee – Gedanken zu einem neuen Sozialversicherungsmodell
- Die Zentren – einige Gedanken zum Raum der „Füllhornkasse“
- Der Markt – erste Überlegungen zum möglichen Markt (Potential).
2. Teil
Der zweite Teil möchte ein paar Anregungen geben, wie die Stadt Zürich dieses Projekt unterstützen könnte.
- Warum die Stadt Zürich?
- Wie könnte die Füllhornkasse entstehen?
- Was könnte die Stadt Zürich tun?
3. Teil
Der dritte Teil ist der Versuch die Vision hinter der Füllhornkasse sichtbar zu machen. Diesem Umstand angepasst wurde eine „poetische“ Form der Sprache gewählt.
Die Idee
Der Grundgedanke ist, die immer teurer werdenden Sozialversicherungsleistungen – ähnlich dem HMO-Modell der Krankenkassen – teilweise in kostengünstigeren Strukturen anzubieten. Die Füllhornkasse ist eine Sozialversicherung die von einem neuen Sicherheitsbegriff ausgeht. Die Säulen auf denen sie gebaut ist, sind: Ökologie, soziokulturelle Energie und Subsistenz.
Ökologie
Dass der Sicherheitsbegriff ohne die Berücksichtigung der Ökologie keinen Sinn macht, leuchtet heute sofort ein. Erst wenn unser Geld eine nachhaltige Entwicklung [Sustainable Living im Sinne des UNEP – United Nations Environment Programme] unterstützt, ist unsere Vorsorge in einem umfassenden Sicherheitsbegriff eingebettet.
Soziokulturelle Energie
Hier handelt es sich um den schwierigsten Begriff in unserem neuen „drei-Säulen-Konzept“. Es geht uns um die direkte Solidarität, im Gegensatz zur aufwendig verwalteten und anonymisierten Solidarität der heutigen Versicherungsgesellschaften. Was wir damit meinen lässt sich am besten an zwei kurzen Beispielen erläutern:
1) In vielen Bauerngemeinden der Schweiz gab es früher einen Brauch. Wenn ein Bauer eine Kuh notschlachten musste, wurde das Fleisch vom Metzger in Stücke von etwa 5 Kg zerlegt. Kinder gingen dann von Haustüre zu Haustüre und alle kauften von dem Notfleisch. Da die meisten von ihnen auch Bauern waren, wussten Sie, dass ihnen das gleiche Unglück passieren könnte und dass sie dann auf die gleiche Solidarität zählen könnten.
2) Acht Menschen in Deutschland schlossen sich zu einer Fahrradversicherungsgemeinschaft zusammen. Die Regeln sind ganz einfach: Wird dem einen sein Fahrrad gestohlen, ersetzt ihm die Gemeinschaft den Verlust. Jedes Mitglied bezahlt im Schadensfall einen Anteil proportional zum Wert des eigenen Fahrrades. Vor dem Schadensfall bestand die Versicherung also nur aus einer Abmachung (Eine Form von soziokultureller Energie). Erst nach dem Schadenfall wird die Gemeinschaft wirtschaftlich tätig. Die Administrationskosten tendieren gegen Null und die Gefahr des Versicherungsbetruges ist durch die soziale Kontrolle praktisch ausgeschlossen.
Dass diese Form der Solidarität einem menschlichen Grundbedürfniss entspricht, sehen wir an den Erfolgen von Spendenaufrufen der Glückskette für die Hilfe in Katastrophen- und Kriegsgebieten. Soziokulturelle Energie zeigt sich in der Tendenz des Menschen mehr zu sein als nur ein Isolat. Die Energie, die uns zufliesst, wenn wir unsere Handlungsweise über einen rein individuellen und egoistischen Bereich hinaus erweitern ist eine psychologische und soziale Tatsache.
Nach unserer Einschätzung ist die Entwicklung zu einer zunehmenden Individualität, wie wir sie im europäischen Kulturraum in Ansätzen seit Jahrtausenden und im Extrem in den letzten Jahrzehnten erleben, eine sinnvolle Emantipationsbewegung [Campbell 1985]. Wahrscheinlich besitzen Einzelne erst in der extremen Position des wirtschaftlich und sozial unabhängigen Individuums die Freiheit. sich auf eine kreative, aktive und menschliche Weise der energetischen Dynamik in Gruppen zu öffnen. Wenn wir also im nächsten Punkt von „grossfamilienähnlichen Gebilden“ sprechen, meinen wir damit nicht ein Rückschritt in die Enge und Unfreiheit aus der wir uns zielsicher herausgearbeitet haben.
Wir glauben aber, dass es an der Zeit ist, all die soziologischen und psychologischen Erkenntnisse der letzten Jahre umzusetzen und unsere Forschung weiterhin auf dieses Gebiet zu konzentrieren.
Subsistenz
Oekologische Anliegen und soziokulturelle Energie haben in Gemeinschaften, die eine hohes Mass an Subsistenz aufweisen, die besten Möglichkeiten sich zu entwickeln.
Mit Subsistenz (oder Versorgungswirtschaft) ist ein Haushalt gemeint, dessen Mitglieder ihre Arbeitskraft nicht ausschliesslich auf einem externen Arbeitsmarkt anbieten. Es sind Gemeinschaften in denen gelebt und produziert wird. Sie sind genügend gross (vielleicht 20 – 500 Personen) dass sie – vor allem wenn sie auch Landwirtschaft betreiben (im Rahmen der Permakultur auch durchaus in Städten praktizierbar [Bil Mollison 1978]) – eine gewisse wirtschaftliche Unabhängigkeit besitzen. Dadurch, dass Leben und Arbeit näher beieinander liegen, ist auch eine reduzierte Arbeitskraft (zum Beispiel von genesenden und alten Leuten) willkommen. Die Vorteile der Versorgungswirtschaft gegenüber unserer heutigen Erwerbswirtschaft wird von verschiedenen Seiten [Binzwanger 1991/andere] zunehmend betont. Ich möchte daher nicht im Detail darauf eingehen. Da sie sich durch grössere Effizienz auszeichnet sind Subsistenzwirtschaften als Basiseinheit für ein neues Versicherungsmodell sehr gut geeignet. Wer sich eine Versorgungswirtschaft vorzustellen will, kann sich vom Bild eines Klosters (oder auch des Kibbuz) anregen lassen. Diese waren (und sind) klassische Beispiele von Versorgungswirtschaften. Da Klöster früher auch für viele soziale und medizinische Belange zuständig waren, ist unserer Idee in gewisser Weise eine Neuauflage eines altbewährten Prinzips: klosterähnliche Gebilde, den Bedürfnissen des modernen Lebens angepasst und nicht an den Pathos einer bestimmten Glaubensrichtung gebunden, wären meiner Meinung nach sehr überlebensfähige Einheiten. Wenn innerhalb eines solchen Grosshaushaltes die Nachteile (Unfreiheit/Intriegen) minimiert und die Vorteile (Soziale Energie/Effiziente Ökonomie/Kultur und Kreativität) optimal herausgearbeitet würden, repräsentierten sie für viele einen attraktiven Lebensstil.
Die Subsistenz ermöglicht es Strukturen aufzubauen, in deren Rahmen neue Versicherungsleistungen möglich und finanziell tragbar werden. Eine Gemeinschaft von zum Beispiel 200 Personen trägt mühelos einen gewissen Prozentsatz pflegebedürftiger und erwerbsunfähiger Menschen. Zusätzlich wird dabei eine schnellere Rehabilitation und bessere Nutzung der noch zur Verfügung stehenden Leistungsfähigkeit ermöglicht. Dass in diesem Rahmen marginalisierte Gruppen und verrückte Individuen, „geistig Behinderte“ und Querdenker nicht nur ihren Platz finden, sondern gerade eine Bereicherung darstellen und zur Korrektur des rigiden „Mainstream-Bewussteins“ beitragen, ist als Utopie vielleicht gar nicht so undenkbar. Grössere Lebensgemeinschaften könnten zur Umwandlung von gesellschaftlichen Spannungszuständen in Kreativität und Bewusstsein beitragen.
Die Zentren
Die Subsistenzzentren könnten in Zusammenarbeit mit der Stadt Zürich und den Kassenmitgliedern der Füllhornkasse, die diesen Schritt in eine andere Wirtschaftsform vollziehen wollen, entstehen. Die Stadt stellt diesen Gruppierungen die Finanzierung der Siedlung durch Bürgschaften oder Genossenschaftskapital sicher. Bei der Planung und dem Bau sind kasseneigene Berater für die realistische Abwicklung zuständig. Die einzelnen Subsistenzwirtschaften verpflichten sich zum Beispiel 10% der Wohnplätze der Kasse (beziehungsweise dem Sozialamt) zur Verfügung zu stellen und die Kapazität für die Pflege für die Hälfte dieser Plätze. Die Art und die Schwere der Pflegefälle wir von Zentrum zu Zentrum verschieden sein und von den sonstigen Aktivitäten dieser Zentren abhängen. Zukunftsträchtige Wirtschaftsunternehmen, die sich in diesen Zentren bilden, könnten teilweise über eine Risikokapitalfond der Kasse unterstützt werden (Fond gegen Arbeitslosigkeit).
Unsere Erfahrungen und aktuellen Berechnungen zeigen, dass eine Siedlung nach obigen Kriterien für 100 Menschen zu bauen etwa SFr. 10 Mio kostet. Die genauen Verrechnungsmodis für Leistungen dieser Zentren für die Kasse und die Leistungen der Kasse für diese Zentren müssten berechnet werden. Der Eigenkapitalbedarf könnte mit diesem Finanzierungsmodell relativ hoch liegen (Etwa 50%) was die Fremdbelastung verringert und es dennoch erlaubt zusätzliches Kapital von institutionellen Anlegern und Banken an okologisch sinvolle Projekte zu binden. Die geschätzten Umsätze aus der Kasse würden es ermöglichen etwa zwei Zentrum für 100 – 200 Menschen pro Jahr zu bauen.
Nach 10 Jahren wäre so kostengünstiger Wohnraum für etwas 20% der Versicherten erstellt, wobei weniger als 50% des Kapitales der Kasse in diesen Immobilien gebunden wäre.
Der Markt
Bevor wir uns weitere Gedanken über die „Füllhornkasse“ machen, sollten wir uns den Markt betrachten in dem sich diese Dienstleistung behaupten muss.
Da der Versicherungsmarkt – gerade im Bereich der Sozialversicherungen – stark reglementiert ist, ist es kurzfristig schwierig ein wirklich optimales Produkt zu lancieren. Viele Einschränkungen, die noch vor wenigen Jahren als absolut sinnvoll galten, können bei einer totalen Neubeurteilung der Sicherheitssituation, wie sie uns vorschwebt, zu einem Hemmschuh für die Entwicklung werden. Wir kennen dieses Problem aus vielen anderen Bereichen. In gewisser Weise würde die „Füllhornkasse“ einen Paradigmawechsel im Bereich der Sozialversicherungen auslösen.
Die zunehmende Kreativität in der Entwicklung neuer Finanzprodukte hat jedoch in letzter Zeit auch zu einigen neuen Versicherungslösungen geführt. Innovationen im Bereich Krankenkasse (Gesundheitskassen) und Lebensversicherung zeigen, dass der Markt in Bewegung gekommen ist. Die Füllhornkasse müsste aus rechtlichen Gründen sicher im Bereich der (traditionellen) Säule 3B angesiedelt sein. Die Zielgruppe sind jüngere Leute, die sich den Risiken der heutigen Sozialversicherungen bewusst sind, die nicht sicher sind, dass Sie am Ende ihrer Berufslaufbahn wirklich in den Genuss der AHV kommen und die aus diesem Grund auch der traditionellen 3. Säule kritisch gegenüberstehen.
Vorsichtig geschätzt liegt das Marktpotential für eine solche Versicherung in der ganzen Schweiz bei etwas 200’000 Personen. Als konkurrenzloses Produkt müsste die „Füllhornkasse“ auch ohne übertriebenen Werbeaufwand, eine Marktdurchdringung von 10% in den ersten 3 Jahren erreichen können (20’000 Personen).
Das Versicherungsprodukt hätte 3 Ebenen:
Die traditionelle Risikoversicherung
Hier unterscheidet sich die Leistungen nicht von bestehenden Versicherungen. Wir können wählen, welche Risiken wir abgedeckt haben wollen: Krankentaggeld, Invalidität, Todesfall usw. Gewissen Leistungen müssen ähnlich dem HMO-Modell amerikanischer Krankenkassen im Rahmen des Möglichen in angeschlossenen Einrichtungen geltend gemacht werden. Das ist einerseits eine Einschränkung der persönlichen Freiheit, anderseits jedoch eine bewusste Wahl und eine kostensparendem Massnahme.
Der traditionelle Sparplan
Wie in anderen Lebensversicherungen wird in der „Füllhornkasse“ gespart. Wiederkehrende Beiträge oder Einmalprämien sind möglich.
Wohnrechte
Ab einer gewissen Spareinlage erwirbt die Versicherte das Wohnrecht in einer der Kasse angeschlossenen Siedlung (ähnlich einem Genossenschaftanteil in Baugenossenschaften), die nach den vorher beschriebenen Kriterien der Ökologie, der sozio-kulturellen Energie und der Subsistenz gebaut werden. Das Bedürfnis dieser Art von Lebensform ist heute ausgewiesen. Viele Projekte scheitern jedoch an gruppendynamischen Schwierigkeiten oder an Finanzierungsproblemen.
Füllhornkasse – die Stadt Zürich
Warum die Stadt Zürich?
Grundsätzlich handelt es sich bei der Füllhornkasse um ein Projekt, dass sich nicht spezifisch auf eine Stadt oder eine Region bezieht. Zusätzlich vermischt es privatwirtschafliche und sozialpolitische Elemente in einer nicht ganz zulässigen Weise. Das Projekt vereint jedoch einige Punkte, die es für eine Stadt wie Zürich interessant machen könnten, die Umsetzung der Füllhornkasse zu fördern.
- Die Füllhornkasse geht Probleme, die allgemein anerkannt werden von einer ganzheitlichen und überraschenden Seite an und kann damit einen Beitrag zu einem neuen Gesellschaftsvertrag leisten.
- Die Füllhornkasse gibt vielen zukunftsweisenden Projekten eine gemeinsame Basis (HMO, Arbeitsloseneinsatzprogramme, Baubiologie, Permakultur, Soziokulturelle Animation, ökologische Geldanlagen, Ökozentren usw.
- Die Füllhornkase lässt sich (falls Sie vom Gemeinwesen maßvoll unterstützt wird) als Modellfall im relativ kleinen Rahmen verwirklichen. In einem Pilotversuch könnten wertvolle Erfahrungen gesammelt und Kontakte geknüpft werden, die der Stadt und dem Sozialamt zugute kämen.
- Die Füllhornkasse entspricht als „Graswurzelbewegung“ dem modernen Grundsatz der „Hilfe zur Selbsthilfe“. Die Hilfeleistung der Stadt wären eher auf das Bereitstellen der richtigen Rahmenbedingungen als auf teure Investitionen ausgerichtet. Als demographisches und wirtschaftliches Zentrum der Schweiz hat die Stadt Zürich ein vitales Interesse an Innovationen, die soziale Kosten senken helfen, ist sie doch häufig am stärksten von den Problemen dieser Zeit betroffen: Drogenprobleme, Kostenexplosion im Gesundheitswesen, neue Armut usw. sind ja nicht gleichmässig über die Schweiz verteilt.
Wie könnte die Füllhornkasse entstehen?
- Eine Projektgruppe aus verschiedenen Bereichen (Versicherungswesen, Sozialamt, Bauamt, Arbeitsamt, sowie Vertreter verschiedener NRO und NPO wie Kraftwerk1, Ökozentrum, usw.) erarbeiten ein Konzept.
- Ein Pilotprojekt mit einem bis zwei Subistenzwirtschaften wird aufgebaut und finanziell abgesichert.Eine Stiftung oder Genossenschaft konstituiert sich, die von Privatleuten, NRO und RO getragen wird.Ein Versicherungsprodukt wird lanciert. Gleichzeitig wird mit bestehenden Einrichtungen und Zentren und den bestehenden Pilotprojekten Service-Verträge ausgehandelt.
Was könnte die Sadt Zürich tun?
An dieser Stelle möchte ich nur die ersten Zettel an die Pinboard stecken. Die Vorschläge verstehen sich als ein erster Input zu einem Brainstorming, auf das ich sehr gespannt bin. Ich weiss, dass die Stadt schon viele Dinge tut, die sich in die gleiche Richtung bewegen. Ob die Idee (oder die Vision) einer Füllhornkasse hier überhaupt noch einen Beitrag leisten kann, lässt sich von mir aus nicht beurteilen.
- Die Stadt Zürich könnte die Entstehung einer Projektgruppe initiieren und sich daran beteiligen.
- Die Stadt könnte eventuell das Land oder die Liegenschaft für ein Pilotprojekt zur Verfügung stellen und dieses begleiten.
- Die Stadt könnte sich an der Trägerschaft der Stiftung/Genossenschaft beteiligen
Die Vision einer öko-sozialen Versicherung
Die Tatsache, dass die wohlgemeinten Versuche unsere ökologischen
Fehlverhalten aufzugeben, immer wieder im Sand verlaufen, beschäftigt
mich. Heute glaube ich, einen wichtigen Faktor in der Verhaftung
an die Fiktion des Mangels gefunden zu haben. Erst das Akzeptieren
eines neuen Weltbildes, das Reichtum und Überfluss als Grundzustand
anerkennt, wird uns die nötige Ruhe geben, unsere Handlungen
auf das wirklich Wesentliche, Menschliche und Unausweichliche
zu konzentrieren.
Dass meine Ideen auf die Vorstellung einer Welt mit mehr Subsistenzwirtschaft
herausläuft, ist kein Zufall. Kommen doch heute von ganz
verschiedenen Seiten ähnliche Ideen. Wo wir hinwollen ist
offenbar weniger die Frage, als wie wir damit anfangen. Diese
kleine Broschüre illustriert einige meiner Erlebnisse und
Gedanken, die zur Entwicklung des Modells der „Füllhornkasse“
geführt haben. Ein utopisches Modell, unausgereift und verwegen.
Ich jedenfalls wäre bereit, den Sprung zu wagen. Wie steht
es mit Dir?
Thomas Diener, Japaratinga, Brasil 21. Dezember
l992
Dank
Ich möchte an dieser Stelle allen Danken, die diese Schrift
ermöglicht haben. Viele der angesprochenen Ideen liegen
heute in der Luft und werden von verschiedenen Seiten aufgegriffen.
Ich verzichte daher auf detaillierte Quellenangaben und genaue
Zitate. Diejenigen, die Ohren, Augen und das Herz offen halten
für die Bedürfnisse der Welt, werden vieles nicht nur
utopisch finden. Allen Freunden, die sich die naive Kunst des
Träumens bewahrt haben, möchte ich ganz besonders danken.
Ohne sie wäre kein Raum für diese Gedanken gewesen.
(1)
DIE ERDE
LEBT. MIT JEDEM IHRER
ATEMZÜGE GEHT EINE PRICKELNDE,
FREUDIGE ERREGUNG DURCH
MEINEN KÖRPER.
Die Mutter Erde, die für uns sorgt, ist nicht einfach
ein abstrakter Gedanke oder eine poetische Metapher. Die Erde
lebt. Ihre Liebe uns gegenüber ist ein ständiger Strom
von Freude und Wohlwollen. Und dieses Wohlwollen ist unmittelbar
erfahrbar. Ich höre Sie sagen: „Warum rennt ihr, warum
hetzt ihr blind herum und macht euch Sorgen und kämpft um
jeden Bissen. Ich bin für euch alle da und mein Reichtum
gehört allen meinen Kindern. Öffnet die Augen und Ihr
seht, dass Ihr in eine Welt des Ueberflusses geboren wurdet.
Wacht auf und nehmt war, dass es genug hat von allem was Ihr
braucht um glücklich zu sein.“
(2)
Mangel ist die Fiktion, die uns antreibt, die uns atemlos
und egoistisch, erfinderisch und manchmal auch verschlagen werden
lässt. Er fördert das Nullsummenspiel, in dem auf jeden
Gewinner ein Verlierer fällt. Er lässt uns unnötigen
Besitz anhäufen.
(3)
Ich stelle mir eine Welt vor, in der die Menschen wissen,
dass sie reich sind. Eine Welt, in der jeder reich geboren wird,
weil seine Mutter, die Erde, einen beständigen Ueberfluss
an allem Notwendigen produziert.
All die Qualitäten, die in den Hochreligionen dem Menschen
zugesprochen werden, all die Möglichkeit, Liebe zu erfahren
und zu geben, die Möglichkeit sorglos und freudig in den
Tag zu leben, würden dadurch selbstverständlich. Eine
Welt, in der mehr gelacht würde und mehr gespielt. Eine
Welt in der eine tiefe Dankbarkeit und ein Staunen über
die Wunder der Natur wieder ein Bestandteil der Kultur wären.
(4)
JEDEN TAG
MUSS ICH MICH
VON NEUEM ÖFFNEN
WIE DIE BLUMEN
Die Grundlage unseres Reichtums ist der Boden. Wir sind Geschöpfe
des Bodens. „Der Mensch ist nicht weniger ein dem Boden
verhafteter Organismus als der Regenwurm“ sagt John Seymour.
Und Satish Kumar: „Der Boden ist unsere unverzichtbare Grundlage.
Er ist so fundamental, dass wir ohne ihn nicht überleben
können. Wenn jemand glaubt, den Boden ‚besitzen‘ zu können,
wenn jemand sagt, dieser Boden ‚gehört‘ mir, so könnte
er ebenso behaupten die Sonne gehöre ihm… Der Boden ist
ein Geschenk der Natur, wie die Luft, die wir atmen, oder das
Wasser, das unseren Durst stillt.“
In einigen Teilen der Welt leben noch Sammler und Jäger.
Sie kennen den Überfluss der Natur und „arbeiten“
nur 2 – 4 Stunden pro Tag. Das ist die Zeit, die sie brauchen,
um all das zu pflücken, zu jagen und herzustellen, was sie
zum Leben benötigen. Wir würden jedoch an manchen dieser
Orte verhungern. Wohin müssten wir diese Menschen „entwickeln“,
wenn wir ihnen nicht ihre Lebensgrundlage zerstört hätten?
Es ist viel gewonnen, wenn wir das Gesetz des Überflusses
dort akzeptieren, wo wir leben, in Zusammenarbeit mit unseren
Mitmenschen und in der Kultur, in die wir hereingewachsen sind.
Noch besser ist es jedoch, dieses Wissen auch in unserer Zusammenarbeit
mit der Natur anzuwenden.
(5)
Viele Forschungsprojekte zielen darauf ab, die Natur zu verändern
und zu verbessern. Wir misstrauen ihren Gaben und glauben es
ohne sie besser zu machen. Es gibt keine Kommunikation (und Kommunikation
heisst ja zusammenkommen) mehr zwischen uns und der Natur. Kein
moderner Manager würde seine Mitarbeiter so behandeln wie
wir Mutter Erde. Eine Forschung, die darauf abzielte, mit der
Erde zu kooperieren, wird für alle Beteiligten wundervoll
überraschende Ergebnisse liefern.
(6)
Wie jedoch treten wir mit der Erde in einen Dialog? Durch
Nicht-Tun! Wir haben bloss vergessen, dass wir ein Teil von ihr
sind. Unsere innere Natur ist aus dem gleichen Stoff wie die
äussere. Wir waren nie von ihrem Herzschlag getrennt und
werden es auch nie sein. Wir müssen vielleicht wieder lernen
zuzuhören und unsere Handlungen einfacher zu gestalten.
Masanobu Fukuoka ist einer der bekanntesten Vertreter der
natürlichen Landwirtschaft. Ohne Pflügen, ohne Chemie,
mit den einfachsten Mitteln und mit weniger Arbeit als alle anderen,
hält er seine Felder in Ordnung. Er ist ein Meister des
Nicht-Tun. Er erntet sechshundert Kilogramm Reis und sechshundert
Kilogramm Wintergetreide auf tausend Quadratmetern. So ein Feld
ernährt fünf bis zehn Menschen. Es gibt jedoch weniger
als eine Stunde Arbeit pro Tag.
(7)
In unseren Breitengraden gehört eine heizbare Behausung
zu den Grundbedürfnissen des Menschen. Schöne, sinnvoll
genutzte Räume, die mit wenig Aufwand errichtet werden können
und die aus einfachen Materialien bestehen, ist das Ziel der
Baubiologie. Viele Baubiologen orientieren sich jedoch immer
noch zu sehr an den Normen der heute üblichen Bauweise.
Auch hier können wir von der traditionellen Baukunst unserer
Vorfahren lernen und sie unseren Bedürfnissen anpassen.
Und bevor wir einen „Naturlack“ erfinden, dessen Rohstoffe
aus allen Erdteilen stammen, sollten wir uns der Fläche
zuwenden, die wir damit behandeln wollen und uns fragen: Ist
es hier wirklich nötig zu streichen?
Wir müssen etwas erfinderisch sein und unseren Geist
dafür einsetzen die Denkweise des Überflusses zu üben.
Dann werden uns die Augen aufgehen und wir werden alles nötige
in der Reichweite eines Fussmarsches finden. Ich bin sicher,
dass wir mit etwas Phantasie, lustvoller Forschung und der nötigen
„Faulheit“ bald einmal eine Baukunst erreichen werden,
die unseren echten Bedürfnissen entspricht, ohne die Mitwelt
zu belasten und unsere Zukunft zu gefährden.
(8)
Der Energiehunger unserer Gesellschaft führt zu vielen
Problemen. Wir wissen, dass es so nicht weitergehen kann, und
wir machen uns Sorgen über eine kommende Energieverknappung.
Selbst konservative Techniker sehen jedoch, dass etwa 20% des
heutigen Energieverbrauches sinnlos verpufft. Darüber hinaus
leben wir in einem Meer von Energie. Jedes Gewitter könnte
den Strom für eine ganze Stadt liefern, wüssten wir
es zu nutzen.
Wenn wir die Idee des Überflusses ernst nehmen, sollten
wir uns zuerst einmal fragen, ob wir die Energie wirklich brauchen,
und uns dann umschauen, wo wir Sie ernten können. Die Forschung
in Zusammenarbeit mit der Natur steckt noch in den Kinderschuhen.
Wasserkraft, Windmühlen, Solarenergieanlagen, Biogas und
Biomasse sind erst ein bescheidener Anfang.
Unsere Energiegewinnung ist heute äusserst primitiv.
Wir verwenden hauptsächlich eine Technologie aus dem vorletzten
Jahrhundert: Die Dampfmaschine. Selbst unsere Atomkraftwerke
sind im Grunde genommen nichts anderes als grosse Dampfmaschinen,
die törichterweise mit Kernenergie beheizt werden. Man
braucht weder Prophet noch Phantast zu sein, um vorherzusehen,
dass die Energieforschung aus dem Paradigma des Überflusses
und der Zusammenarbeit mit der Natur zu ganz neuen Lösungen
führen wird.
(9)
Wie jedoch finden wir zu einer Welt des Überflusses innerhalb
unseres hartnäckigen Glaubens an den Mangel und an den Mythos
der Verbesserung unseres Lebens wider die Natur?
Zuerst einmal müssen wir Freiräume schaffen, in
denen wir Zeit und Musse haben, unsere „Forschung der Faulheit
und des Überflusses“ voranzutreiben. Dafür brauchen
wir eine Kultur, die es uns ermöglicht, inmitten unserer
teuren und arbeitsteiligen Welt Inseln der Bescheidenheit entstehen
zu lassen. Orte, wo wir als Individuum nicht dem direkten Druck
der Weltwirtschaft ausgesetzt sind. Orte, wo wir nicht rennen
müssen, um uns unsere teuren Wohnungen und unseren vielleicht
nicht ganz freiwillig gewählten teuren Lebensstil leisten
zu können.
(10)
Ein Aspekt unseres teuren Lebens nenne ich das „Bohrmaschinensyndrom“.
In der Schweiz gibt es in jedem dritten Haushalt eine Bohrmaschine.
Pro Maschine werden im Durchschnitt fünf Löcher pro
Jahr gebohrt. Das „Bohrmaschinensyndrom“, das uns ursprünglich
aus der Abhängigkeit von unseren Nachbarn befreien sollte,
macht uns zu Sklaven unserer Lohnarbeit. Wir sind über unseren
Arbeitsplatz direkt mit der Weltwirtschaft verknüpft; mit
all ihren, Problemen und Wechselfällen. Eine kleine Krise
hier oder dort kann uns zum Straucheln bringen und dann müssten
wir auf das zurückgreifen, wovor wir heute so viel Angst
zu haben scheinen: Die direkte Hilfe unserer Mitmenschen und
den Ertrag der Erde.
Wer günstig wohnt, eventuell einen kleinen Garten bestellt
und mit Menschen aus der Nachbarschaft ein Beziehungsnetz unterhält,
das es ihm erlaubt, Güter gemeinsam zu nutzen und auszutauschen,
kann eine wundervolle „Kultur der Armut“ entwickeln,
um die ihn viele beneiden müssten.
(11)
Kultur und Glück gehören zusammen. Unter Kultur
verstehe ich die Fähigkeit, sich aktiv mit dem auseinanderzusetzen,
was sich im eigenen Umfeld tut, und es dazu zu nutzen, ein dichtes
Netz von all dem zu weben, das unser Leben interessant, abwechlungsreich
und in vielfältig macht. Die „neue Armut“ in der
Schweiz ist vor allem ein kulturelles Problem: Es gibt hier keine
„Kultur der Armut“. Es gibt keinen Kontext, in dem
wir mit weniger materiellen Möglichkeiten ein menschenwürdiges
und glückliches Leben führen können.
(12)
Ein grosses Problem auf dem Weg zu einer Welt des Überflusses
ist die Angst. Wer aus dem Kontext der Wohlstandsgesellschaft
herausfällt, hat nichts zu lachen und wird zum Verlierer.
Um sich jedoch innerhalb des Systems zu behaupten, muss er sich
gehörig anstrengen. Der Lebenslauf muss auf ein bestimmtes
Ziel ausgerichtet und lückenlos sein. Eine bestimmte Form
der Logik die mit Wachstums- und Leistungsdruck einhergeht, wird
zur dominierenden Alltagserfahrung.
(13)
Wer sich weiterentwickeln will, um zusammen mit anderen in
die Welt des Überflusses einzutreten, braucht ein Netzwerk,
eine Rückversicherung, die ihn stützt und ihm die Angst
nimmt. Dieses Netzwerk kommt nicht nur für die Grundbedürfnisse
des einzelnen auf, wenn er sich nicht mehr selber versorgen kann
– dafür ist ja bei uns heute noch der Sozialstaat zuständig
– sondern es hilft uns, einen Kontext zu schaffen, in dem wir
glücklich sein können. Ein solcher ist ein Stück
Heimat, ein Stück Kultur, ein Wertesystem, das wir mit anderen
teilen und das seinen ganz eigenen Zauber entwickelt.
Zuerst müssen wir jedoch die Ehrlichkeit besitzen, die
Magie der uns umgebenden Güter wahrzunehmen. Nur wenige
sind wirklich immun gegen den Zauber unserer Statussymbole. Wenn
wir das nicht akzeptieren, sind wir schon verloren. Wir wenden
uns von diesen Dingen ab, werden jedoch nicht aufhören können,
sie zu bekämpfen.
(14)
Als Einzelne müssen wir lernen, die Magie der uns umgebenden
Dinge für unser Wachstum zu nutzen. Das heisst, alle die
Errungenschaften der Technik so bewusst wie möglich zu geniessen.
Wir können all die faszinierenden Wunderwerke, denen wir
verfallen sind, verwenden, so lange es uns Spass macht. Wenn
wir es bewusst tun, wird ihr Zauber früher oder später
auf uns übergehen. Dann verlieren die Dinge ihren Wert.
Glücklicherweise brauchen wir nicht einmal Eigentum,
um diesen Zauber für uns zu nutzen. Ich schlage vor, diese
magischen Dinge gemeinsam anzuschaffen und sie so exzessiv zu
geniessen, bis sie wie leere Hüllen zurückgelassen
werden können. Die Idee ist ganz einfach: Alles was uns
fasziniert hat eine Botschaft. Es nutzt nichts den Boten zu besitzen,
wenn wir seine Nachricht nicht verstehen. Haben wir jedoch die
Nachricht verstanden, wird der Bote überflüssig.
(15)
Die Magie des einfachen Lebens im Überfluss wird uns
dann langsam gefangennehmen. Und je mehr wir die Botschaft der
Erde verstehen, um so mehr Kraft bekommt unsere Lebensweise.
Wir werden lernen, uns über Sachen zu freuen, deren Existenz
wir bisher nicht einmal geahnt haben. Daraus wird die Kultur
entstehen, die wir alle brauchen, um unser Leben ausgefüllter
und reicher werden zu lassen.
(16)
Was für Schritte könne wir als nächstes unternehmen
um in die Welt des Überflusses einzutreten? Schliessen wir
uns zusammen und ermöglichen wir den Mutigsten unter uns
den Übergang so rasch wie möglich. Diese Pioniere werden
unsere moralische und finanzielle Unterstützung benötigen.
Als Gegenleistung schaffen sie uns Plätze, wo wir uns zurückziehen
können, wenn wir im Gehetze unserer alten Welt unterzugehen
drohen. Sie schaffen uns Plätze wo wir uns zurückziehen
können, wenn wir alt oder krank geworden sind. Plätze,
die nicht die anonyme Sterilität von Altersheimen und Krankenhäusern
ausstrahlen, sondern Plätze, die bersten vor Leben, Freude,
Kreativität und innerem Reichtum.
(17)
Pragmatisch ausgedrückt ist dieser Zusammenschluss für
uns eine Versicherung. Grossen anonymen Versicherungen fehlt
die soziale Energie um uns in einer echten Kriesensituation wirklich
zu helfen. Soziale Netzwerke bieten daher einen viel sinnvolleren
Halt, da sie uns nicht in eine trügerischen Scheinsicherheit
wiegen. Soziale Netzwerke sind inteligent und können auf
verschiedene Formen und auf verschiedenen Ebenen auf Gefahren
reagieren. Wir könnten uns hier für einen monatlichen
Beitrag gegen Krankheit versichern lassen. Inbegriffen wäre
die Möglichkeit, jederzeit ein lebenslanges Wohnrecht in
einem dieser Zentren geltend zu machen. Das ermöglicht uns,
einige Monate oder Jahre aus unserem alten Kontext auszusteigen
und im Alter ein Zuhause zu haben, wo für uns gesorgt wird.
Die „Füllhornkasse“ wäre eine Altersvorsorge,
eine Krankenkasse und eine Arbeitslosenversicherung in einem.
(18)
Die Pioniere, die diese Zentren bewohnen, würden fruchtbare
Arbeit leisten: In der Landwirtschaft und im Gartenbau, im Gesundheitswesen,
in der Baukunst, in der Energieversorgung und vor allem in einem
Bereich, für den ich nur ein englisches Wort kenne: „Community
Making“. Es geht dabei um die Nutzung einer anderen Form
von „Alternativenergie“: Die Lebensenergie, die entsteht,
wenn wir uns in intakten sozialen Feldern bewegen. Es würden
verschiedene Zentren der Kultur und der Bildung entstehen. Forschung,
die in der etablierten Wissenschaft zu kurz kommt, hätte
hier einen Platz.
(19)
Die Welt des Überflusses ist keine Utopie. Ein Teil der
benötigten Infrastruktur ist heute schon vorhanden. Es gibt
Ökozentren, Kurszentren und Bio-Landwirtschaftsbetriebe
die sich schon lange für diese Idee begeistern und zum Teil
schon zu den ersten Kristalisationspunkten dieser Bewegung geworden
sind.