Navigieren in Zeiten der Veränderung

Individuelle Orientierung und gesellschaftliche Entwicklung

Manche Menschen reagieren auf gesellschaftliche Veränderungen wie empfindliche Seismographen. Das habe ich Ende der 80er Jahre erlebt, als Umweltschutz in der Schweizer Öffentlichkeit das erste Mal ganz oben auf der Liste der gesellschaftlich relevanten Themen stand. Ich war in dieser Zeit Projektleiter des Alternativen Branchenbuches der Schweiz, einem grünen Adressverzeichnis. Dutzende Menschen hab mich nach dem Erscheinen des Buches angerufen, weil sie auf der Suche nach einer Stelle im Ökologiebereich waren. Damals herrschte Vollbeschäftigung, alle Unternehmen waren händeringend auf der Suche nach Personal. Als Antwort auf den Bedarf vieler Menschen, in ihrer Arbeitszeit etwas ökologisch sinnvolles zu tun, haben wir daraufhin den Verein Öko-Stellenbörse gegründet.

Jetzt, über 30 Jahre später, stehen wir gesellschaftlich vor neuen Herausforderungen. Vordergründig ist es der Krieg in der Ukraine, die Inflation, die Gaskrise, die Pandemie; im Hintergrund warten weitere große Themen, wie die Digitalisierung, der Rückgang der Bodenfruchtbarkeit, das Artensterben und die Klimakrise. Es mehren sich Stimmen, die vom Ende einer Epoche sprechen.

So ist es nicht verwunderlich, dass auch heute wieder viele Menschen wie Seismographen auf die gesellschaftliche Veränderung reagieren und auf der Suche nach neuen Wegen und Lebensentwürfen sind. Die Medien haben das Thema aufgegriffen und ihm Namen gegeben: „Great Resignation“, „Big Quit“ oder „Great Reshuffle“. Auch die Diskussion über die Generation Z, die zunehmend Teilzeit arbeiten möchte oder vermehrt die Sinnfrage stellt, gehört zum Themenkreis.

Während in der Soziologie und der Ökonomie noch debattiert wird, ob „The Great Resination“  ein reales Phänomen beschreibt, habe ich es in der Praxis mit immer mehr Menschen zu tun, die sich die Sinnfrage zunehmend radikaler stellen.

Laufbahnberatung und Coaching in Umbruchzeiten

Da ist die Frau, die ihre Idee einer solidarischen Landwirtschaft energisch vorantreibt, eine andere die völlig berufsfremd eine Ausbildung als Gestalterin beginnt, der Mann der sich überlegt, sich endlich mit einem Fotostudio und eine Werkstatt für das Upcycling von Möbeln selbständig machen. und viele andere, die ihre Lebensplanung energisch in die eigenen Hände nehmen.

Seit Corona zeigt sich dieser Trend auch im Immobilienmarkt: Junge Leute, von der Möglichkeit des Homeoffice beflügelt, kaufen günstige Häuser in entlegenen Regionen und beginnen neben einer Teilzeitbeschäftigung damit, einen großen Gemüsegarten zu bestellen oder Bienen zu züchten. Ein Nachbar von mir ist ins nördliche Waldviertel gezogen, um mit seiner Partnerin in einem kleinen alten Haus zu wohnen und nebenbei einen Permakultur-Garten anzulegen.

Romantischer Eskapismus für Privilegierte?

Jetzt können wir das als eine Form von romantischem Eskapismus betrachten, eine Flucht in die kleine heile Welt. Oder wir können die Impulse als individuelle Beiträge zu einem gesellschaftlich sinnvollen Veränderungsprozess sehen. Je nach Sichtweise werden wir als Coach anders damit umgehen. Ich persönlich tendiere eher dazu, diese Projekte zu unterstützen oder zumindest die Sehnsüchte, die hinter den Phantasien stehen, ernst zu nehmen und mit den KundInnen nach Wegen zu suchen, die Bedürfnisse, die sich darin verbergen, in ihre Lebensentwürfe zu integrieren.

Natürlich sind es vor allem privilegierte Kreise, die es sich leisten können, in ihren finanziellen Ansprüchen einen Gang zurückzuschalten und neue Wege zu gehen. Die Suche nach einer sinnhaften Tätigkeit oder mehr Lebensqualität, beschränkt sich jedoch nicht auf diese Gruppe. Es ist auch nicht so, dass die gesamte „Upper-class“ auf Sinnsuche wäre. In der klassischen Karriereberatung haben wir es auch mit Menschen zu tun, die auf der Suche nach mehr Einfluss sind oder Orientierungshilfe im Rahmen einer Fachkarriere erwarten.

Ich arbeite in verschiedenen Kontexten in mehreren Ländern und treffe dabei überall auf Menschen, bei denen die Fragen „Was braucht die Welt?“ und „Was will ich?“ irgendwie miteinander verbunden sind. Erst einmal ziemlich unabhängig von ihrem finanziellen Hintergrund. Um sich jedoch nicht nur ab und zu dieses Frage zu stellen, sondern auch tatsächlich nach Antworten zu suchen, braucht es die  Möglichkeit innezuhalten. Das scheint Menschen mit einem gewissen finanziellen Polster oft genauso schwer zu fallen, wie Menschen die ökonomisch betrachtet stärker im Hamsterrad gefangen sind.

Ich würde mich daher gerne dafür einsetzen, dass mehr Räume entstehen, in denen wir erst einmal innehalten können und dass diese Räume ganz verschiedenen Gesellschaftsschichten zugänglich sind. Das Heidenreich Projekt im Waldviertel, wo ein zeitlich begrenzten Grundeinkommen für Langzeitarbeitslose geschaffen wurde, war zum Beispiel so ein Raum.

Die Zukunft am Horizont

Oft stelle ich mir die Frage, ob sich hinter den vielfältigen individuellen Träumen, ein größerer Trend erkennen lässt. Ob die Bedürfnisse der Einzelnen und die Notwendigkeiten der globale Situation etwas miteinander zu tun haben. Wenn ich die Projekte anschaue, auf die sich Menschen auf der Suche nach mehr Sinn einlassen, sehe ich tatsächlich ein Muster. So geht es oft um das Thema Ernährungssicherheit, regionale Produktion, Kreislaufwirtschaft, Vermeidung von Abfall, mehr Achtsamkeit im Umgang mit den Ressourcen und der Natur, Gemeinschaft, Ökologie und ganz allgemein um höhere Stabilität und mehr Resilienz. Themen, die – sicher angetrieben durch die multiplen Krisen – auf dem Weg sind, in der gesellschaftlichen Mitte anzukommen. Noch etwas zögerlich werden sie mittlerweile auch von der Politik mitgetragen.

Niemand weiß wohin sich die Welt entwickelt. Die oben genannten Themen gehen jedoch ganz eindeutig in eine von vielen Menschen gewünschte Richtung.  Auch wenn die individuellen Projekt nicht perfekt sind und immer nur einen kleinen Aspekt dessen abbilden, was gesellschaftlich notwendig wäre. Ein Schulterschluss zwischen verschiedenen progressiven Strömungen, könnte jedoch auch größere und wirksamere Projekte entstehen lassen.  Vielleicht liegt es ja auch an uns Professionals, solche Projekte in Zukunft mit mehr Nachdruck einzufordern und zu begleiten.