Wachstum der dritten Art - Fraktales Wachstum

Wachstum heißt für uns vor allem: größer, schneller und mehr! Die Wirtschaft muss wachsen, sonst droht Rezession und Arbeitslosigkeit, ist das Mantra unserer Zeit. Wenn es aus ökologischen Gründen quantitativ nicht mehr geht, dann wenigstens qualitativ, was gut klingt, aber alles Mögliche oder gar nichts bedeuten kann.

Der Begriff Wachstum wird für alle möglichen Phänomene verwendet, die, wenn wir näher hinschauen, wenig miteinander zu tun haben. Ich unterscheide in diesem kurzen Artikel drei Arten von Wachstum. Gerade jetzt wo unsere Wirtschaft durch die Corona Krise heftig erschüttert wird, lohnt es sich, über den Begriff „Wachstum“ nachzudenken.

Drei Arten des Wachstums

1) Ursprünglich war „Wachstum“ wohl ausschließlich Pflanzen, Tieren oder Menschen vorbehalten und der Volksmund wusste um die Grenzen: Bäume wachsen nicht in den Himmel.

Der Begriff  Wirtschaftswachstum ist in diesem Zusammenhang natürlich widersinnig: Sowohl die Hoffnung, als auch die Befürchtung, dass das Wachstum der Wirtschaft eines Tages von allein zu einem natürlichen Stillstand kommt, sind unbegründet.

2) Statt von Wachstum sollten wir besser von Ausbreitung sprechen: Siedlungsgebiete können sich ebenso ausbreiten wie Ökonomien oder Wüsten. Ausbreitung kennt keine natürliche Grenze. Sie endet immer erst dort, wo sie von Gegenkräften gestoppt wird oder sich erschöpft. So breitet sich ein Waldbrand aus, solange er Nahrung findet und nicht von Löschkräften oder Regengüssen aufgehalten wird. Ausbreitung geschieht exponentiell, was das bedeutet ist seit Corona Allgemeinwissen. Die krankhafte Form von Ausbreitung ist Wucherung. Gerade im Bezug auf Wirtschaftswachstum wurde die Grenze zum pathologischen wahrscheinlich dort überschritten, wo die Zunahme des Bruttoinlandsproduktes nicht mehr zu mehr Glück und Lebensqualität führt. In den industriellen Ländern spätestens seit den Achtzigerjahren.

Ausbreitung geschieht immer auf Kosten von etwas anderem. Dort wo sich das Land ausbreitet, wird das Wasser zurückgedrängt und umgekehrt. Ich war letzthin an der Ostsee und da ist dieser Prozess wunderschön zu sehen. Das Meer bricht an der einen Stelle in die Küste ein und schwemmt jedes Jahr einige Meter Land davon. Es gibt jedoch auch eine Gegenbewegung: An anderen Stellen wachsen Sandbänke immer weiter ins offene Meer hinaus und werden langsam von Gräsern und schließlich von Kiefern überwuchert. Dabei kommen verschiedene Kräfte in ein dynamisches Gleichgewicht: Die Küste ist dauernd in Bewegung.

3) Hierbei lässt sich ein Phänomen beobachten, dass vielleicht auch für eine neue Vorstellung von Wirtschaftswachstum interessant ist. Während nämlich sowohl das Land, wie die Wasserflächen in etwa gleich groß bleiben, wächst dennoch etwas unablässig und schier grenzenlos: Die Küstenlinie!

Kochkurve - Beispiel eines Wirtschaftswachstums der dritten Art

Fraktale: Die gleiche Form greift immer wieder und jedes Mal kleiner werdend sowohl nach innen wie nach aussen. Die Fläche sowohl des grünen wie des blauen Teiles bleibt dabei konstant. Die Küstenlinie wird jedoch mit jeder Verfeinerung länger. Dieses Bild ist eine Grundform für Wachstum, das ständig voranschreitet ohne dabei mehr Raum zu beanspruchen.

Küstenlinien werden oft als Beispiele für fraktale Strukturen herangezogen (Gebilde, deren Form auf verschiedenen Vergrößerungsstufen immer wieder selbst-ähnlich sind). Eine dritte Art von Wachstum kommt dadurch ins Blickfeld. Kein Wachstum, das – wie das eines einzelnen Baumes – bald zu einem absehbaren und natürlichen Ende kommt; nicht Ausdehnung in einem euklidischen Raum, wo durch das Raum-greifen des Einen das Andere eingeengt wird, sondern Wachstum, das in einer unendlichen Ausdifferenzierung voranschreitet. Wenn sich Wasser und Land enger umschlingen, wächst die Küstenlinie: Der Umfang des Meeres wird dabei genauso größer wie derjenige der Küste.

Wachstum nach innen

„You have to grow!“, hörte ich bei jeder Lektion von Noam, dem alten Alexander-Technik-Lehrer. Ja verdammt nochmal, ich bin doch schon einsfünfundachtzig und über fünfzig Jahre alt, wie soll ich da noch wachsen?

Hier stoßen wir wieder auf das Wachstum der 3. Art. Aufrecht stehen ist kein Zustand, sondern ein Prozess. Wahrnehmung kann laufend differenziert und verfeinert werden. Es öffnen sich dabei immer wieder neue innere Räume. Das Wachstum der Lebendigkeit kennt, wie dasjenige der Küstenlinie keine Grenze. Zwischen den Räumen des Bekannten gibt es jederzeit eine unendliche Fülle von Unerforschtem. Diese fraktale Form des Wachstums scheint ein Naturprinzip zu sein.

Wirtschaftswachstum der dritten Art

Mit Fraktalen lassen sich mit einfachen Formeln hochkomplexe Strukturen entwickeln, die aussehen wie der Bauplan der Natur. Eins der Berühmtesten davon ist das Farn-Fraktal von Barnsley. (Quelle: By DSP-user [CC BY-SA 3.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0) or GFDL (http://www.gnu.org/copyleft/fdl.html)], from Wikimedia Common)

Die Vorstellung von Wachstum nach innen, eröffnet neue Wege. Wer diese Form von Wahrnehmung kultiviert, betritt Räume, die nicht mit der klassischen Geometrie beschrieben werden können. Eine Linie ist darin nicht die schnellste Verbindung zwischen zwei Punkten, sondern eine Aneinanderreihung von Momenten, die alle eine eigene unendliche Tiefe besitzen. In spirituellen Schulen wie zum Beispiel dem Zen wird diese Wahrnehmung kultiviert.

Wachsen ohne andere einzuschränken

In Laufbahnberatungen erlebe ich oft Menschen, die Angst davor haben, über sich hinaus zu wachsen. Ihre Befürchtung ist, mit dem eigenen Wachstum andere einzuschränken. „Ich kann doch nicht so viel Raum beanspruchen“, kann sowohl Motiv als auch Ausrede sein. Wer Wachstum als Ausdehnung in einem dreidimensionalen Raum wahrnimmt, ist wirklich in einem Dilemma: Soll ich mich weiter klein machen, ohne mein Potential zu leben, oder soll ich anfangen zu wachsen, größer werden und schließlich andere einschränken und bedrängen? Der Sprung in die dritte Bedeutung von Wachstum führt aus diesem Dilemma hinaus. Ich kann mich unendlich ausdehnen beziehungsweise ausdifferenzieren ohne dabei mehr Platz zu beanspruchen. Im Gegenteil: Ich schaffe dadurch Raum, in den hinein sich andere entwickeln können. Was dabei zunimmt, ist die Lebendigkeit.

Die dritte Art kommt auch beim Wachstum von Glück und Lebensqualität zum Tragen. Das Bruttoinlandsprodukt wird schon seit einiger Zeit zurecht als Index für Wachstum kritisiert. Wenn wir Glück und Lebensqualität ins Zentrum stellen, können wir Wachstum als Prinzip retten, ohne dabei unsere eigenen Lebensgrundlagen zu zerstören. Natürlich ist in dieser Betrachtungsweise auch materielles Wachstum weiterhin möglich und nötig. Hier jedoch ein Wachstum der ersten Art, also so lange, bis ein echter Bedarf gesättigt ist und nicht als Selbstzweck. Die dringend notwendigen Investitionen in die Wärmedämmung unserer Häuser und in erneuerbare Energieversorgung gehört ebenso dazu, wie der Ausbau einer wirklich nachhaltigen und sinnvollen Infrastruktur in Ländern des Südens.