Die Versprechen der Personal Coaching Branche
Die Verheißung
Erledigen Sie Ihre Arbeit mit Begeisterung? Gestalten Sie Ihre Karriere aus dem Brennpunkt Ihrer Leidenschaft? Folgen Sie Ihrer Vision? Wer auf der Suche nach einem Berater oder einer Beraterin durch das Internet surft, stößt auf die Verheißung, das ihm oder ihr durch die eine oder andere Methode endlich geholfen wird, eine begeisternde und erfolgreiche Karriere einzuschlagen.
Auch die populäre Ratgeberliteratur kennt viele unfehlbare Wege zu mehr Glück, Geld und Erfüllung. Biographien von Menschen, die Außergewöhnliches geschaffen haben und jetzt ihre Erfolgsrezepte preisgeben, werden Bestseller.
Begeisterung um jeden Preis?
Eine Beratung lässt sich sicher besser verkaufen, wenn in der Werbung tiefliegende Sehnsüchte geweckt werden. Auch auf meiner Homepage finden sich die Begriffe wie: Begeisterung, Vision, erfülltere Zukunft. Diese sind mir auch tatsächlich ein Anliegen und ich weiß aus der Erfahrung vieler Beratungen, dass Enthusiasmus eine wertvolle Zutat zu einer gelungenen Laufbahnberatung ist.
In diesem kurzen Essay möchte ich Sie jedoch dazu einladen, sich für einmal kritisch mit dem Thema auseinandersetzen. Dabei geht es mir um die Fragen:
- Ist Begeisterung tatsächlich das, was Ihnen am meisten fehlt?
- Warum hat dieser Begriff gerade heute Hochkonjunktur?
Dafür möchte ich Sie zu einigen kurzen Exkursionen einladen, die das Thema von verschiedenen Seiten beleuchten.
1. Exkursion
Zuerst besuchen wir ein mediterranes Städtchen. Die kleinen Läden und Handwerksbetriebe, die älteren Männer, die im Park Boule spielen, die Frauen, die auf dem Markt tratschen, all das berührt Sie irgendwie. Die Menschen scheinen wenig Eile zu haben, alle tun irgendetwas was ihnen wichtig ist, aber niemand scheint von einer Vision dazu getrieben zu werden, Außergewöhnliches zu leisten. Warum gefällt es Ihnen hier? (Falls es Ihnen hier gefällt) Welche Seite in Ihnen kommt in Schwingung, wenn Sie diese Atmosphäre in sich aufnehmen? Vielleicht gibt es im Ort einen Bauern, der den Ehrgeiz hat, einen besonders guten Wein zu keltern. Vielleicht gibt es eine Töpferin, die mit besonderer Leidenschaft schöne Vasen modelliert. Vielleicht einen Musiklehrer, der mit seinem Enthusiasmus für Musik seine SchülerInnen ansteckt. Niemand hält sie davon ab und die meisten freuen sich mit ihnen. Wahrscheinlich brauchten diese Menschen auch kein Coaching, um ihre Leidenschaft zu entdecken und zu entwickeln. Stellen Sie sich jetzt vor, ein Karriereberater eröffnet hier seine Praxis und macht sich auf die Suche nach Kundschaft. Wird er Erfolg haben? Und falls ja, wie würde sich der Ort dadurch verändern? Oder müsste zuerst etwas mit dem Ort geschehen, damit der Coach Arbeit bekäme? Und wenn Ja, was?
2. Exkursion
In unserer zweiten Exkursion reisen wir in die Vergangenheit und begegnen einem K. u. K. Beamten. Er ist durchdrungen von der Leidenschaft gute Gedichte zu schreiben und hat es in diesem Gebiet zu Rang und Namen gebraucht. Sein Beamtensalär ermöglicht es ihm, völlig unabhängig vom Publikumsgeschmack zu arbeiten. Daher wird er ihn auch nicht aufgeben, selbst wenn sein Verleger ihn dazu drängt. Verschwendet er durch seinen langweiligen Beamten-Job sein Talent? Hätte ein Coach seinen Ehrgeiz und sein Unternehmergeist wecken sollen? Wäre er dadurch glücklicher geworden?
3. Exkursion
Zum Schluss besuchen wir ein Dorf in Nordamerika bevor Columbus zu seiner Reise aufbrach. In der Kultur dieser Ethnie haben Träume und Visionen einen hohen Stellenwert und eine wichtige soziale Funktion. Normalerweise zum Wohle des ganzen Stammes. Nun träumt aber ein Mann davon, er müsse 12 Menschen umbringen. Er erzählt den Traum seinem Stamm. Ein paar Tage später kommt ein Dorfbewohner gewaltsam ums Leben. Zwei Tage später ein zweiter. Ein Tag später wird der Mann, der den Traum hatte, erschlagen aufgefunden. Das Dorf bestattet alle drei. Der Alltag kehrt wieder ein. Enthusiasmus heißt wörtlich von Gott erfüllt sein (en-theo-ism). Auch im Wort Begeisterung klingt noch der Geist an, der uns erfüllt. Wo kommen diese Geister her? Sind sie uns alle wohlgesonnen und helfen sie uns ein erfüllteres Leben zu führen?
Alles zu seiner Zeit und am richtigen Ort
Begeisterung ist nicht die einzige Messgröße für (berufliche) Zufriedenheit. Im Prozess einer Neuorientierung ist sie sicherlich eine wichtige Zutat. Wenn wir anfangen, daran zu zweifeln, ob wir in der richtigen Richtung unterwegs sind und uns auf die Suche nach neuen sinnvolleren Zielen machen, bekommt die Frage danach, was uns bisher begeistert hat und was uns wohl in Zukunft begeistern könnte, einen hohen Stellenwert. Zu früh gestellt, stößt sie jedoch auf Ablehnung und im späteren Verlauf einer Beratung sind andere Werte, wie Empathie, Humor, Skepsis, Gelassenheit und Realismus genauso wichtig.
Enthusiasm oder excitement sind die englischen Übersetzungen für Begeisterung. Excitement kann aber auch mit Aufregung übersetzt werden. In einem ständigen Erregungszustand zu sein, ist jedoch weder gesund, noch das, was sich die meisten Menschen zutiefst wünschen. Natürlich gab es zu allen Zeiten PionierInnen: UnternehmerInnen, WissenschaftlerInnen und soziale AktivistInnen, die einer außergewöhnlichen Vision folgten und Beeindruckendes geleistet haben. Oft haben diese Menschen auch viele Entbehrungen in Kauf genommen und andere Bedürfnisse dem einen großen Ziel untergeordnet. Von denen, die dabei gescheitert sind, gibt es meist keine Biografien, sie geraten daher schnell in Vergessenheit.
Wer sich getrieben fühlt, unbedingt erfolgreich sein zu müssen und etwas Außergewöhnliches leisten zu wollen, sitzt vielleicht einem Zeitgeist auf und nicht seiner wohlmeinenden inneren Stimme.
Konkurrenz und wirtschaftlicher Erfolgsdruck haben heute m.E. eine übertriebene Bedeutung erlangt. In dieser etwas aufgeregten Atmosphäre geht die Angst um, das Rennen um erfolgreiche Plätze zu verlieren und seine Chancen zu verpassen. Der Boom, den die Beratungsszene in den letzten Jahren erlebt hat, geht teilweise auch auf das Konto dieser Angst. Wer einer Leidenschaft frönt, die sich nicht kommerziell verwerten lässt, oder wer ganz einfach ein unaufgeregtes, beschauliches Leben führen möchte, findet immer weniger anständige Jobs, die das ermöglichen. Hier stoßen wir auf eine wirtschafts- und gesellschaftspolitische Verantwortung, die nicht durch mehr individuelles Coaching gelöst werden kann.
Dein Eintrag hat mich angesprochen, weil ich die Frage, wie ich meiner Begeisterung fröhnen kann, insoferne beantwortet habe, als ich mich entschlossen habe, nach Italien zu gehen. Dieses nach Italien gehen hatte weitreichende Konsequenzen und führt nach und nach dazu, mich aus dem gewohnten Alltag, der geprägt ist von Ängsten und der Notwendigkeit etwas tun zu müssen, löse und in ein andere Leben eintrete. Insoferne stellt sich für mich nicht mehr die Frage, wo gibt es die Jobs, in denen wir unsere Begeisterung leben können, sondern eher, wie können wir ein gutes Leben leben, ohne einen Job ausfüllen zu müssen?
Dazu habe ich hier ein gutes Buch gelesen, es heißt „Ufficio di Scollocamento“. Vermutlich kannst du als Schweizer italienisch, dann könntest du es lesen. Der Titel ist ein Wortspiel, denn „Ufficio di Collocamento“ ist das Arbeitsamt oder die Arbeitsagentur. Scollocamento gibt es glaube ich nicht, aber ein vorangestelltes „s“ verkehrt die Bedeutung des Wortes ins Gegenteil. Das wäre dann die Agentur für Nichtarbeit. Die Autoren habe darüber nicht nur geschrieben sondern auch in einigen Regionen ein solches Büro organisiert, wo es darum gegangen ist, Menschen einen Raum zu geben um sich gegenseitig zu unterstützen, wie ein Leben ohne Erwerbsarbeit aussehen und funktionieren könnte.
Das wäre eine gutes Thema für eine andere Form des Coachings denke ich. Den Paradigmenwechsel zu vollziehen um Nichtarbeit (im Sinne von Arbeit, die man des Geldes wegen tut) als erstrebenswert anzusehen, weil es ein Sein ermöglicht, in dem man sich und seine Leidenschaft lebt bedarf schon einiger Anstrengung und vor allem einiges an Umdenken.
Der Soziologe Alain Ehrenberg hat mit dem Buch „Das erschöpfte Selbst – Depression und Gesellschaft in der Gegenwart“ einen Klassiker zu der gesellschaftlichen Seite dieses Themas geschrieben. Eine Buchbesprechung finden Sie hier: https://www.deutschlandfunk.de/alain-ehrenberg-das-erschoepfte-selbst-depression-und.730.de.html?dram:article_id=102380