Standardisierte Testverfahren sind bewährte Methoden in beruflichen Selektionsprozessen und in Laufbahnberatungen. Auch ich verwende Neigungs- und Eignungstests. Wenn eine Beratung jedoch ausschließlich auf Tests aufbaut, ist Vorsicht geboten.
Eine kompetente Person macht mit Ihnen eine Reihe von Tests. Sie füllen Persönlichkeitsfragebögen aus, stellen sich den Fragen eines umfangreichen Intelligenztests, lassen Ihr Kurzzeitgedächtnis messen, biegen Drähte um Ihre manuellen Fähigkeiten beurteilen zu lassen und interpretieren komplizierte dreidimensionale Bilder, um mehr über Ihr räumliches Vorstellungsvermögen zu erfahren. Nach einem oder zwei Tagen haben Sie alle Tests überstanden. Jetzt warten Sie gespannt auf die Auswertung der Resultate und diese werden Ihnen in Form eines Fähigkeitenprofils geliefert. Nicht nur Erkenntnisse über sich, sondern auch der Vergleich mit Anderen ist dadurch möglich. Vielleicht ist Ihr IQ 10 Punkte über dem Durchschnitt oder Sie wissen, dass Sie im Vergleich mit gleichaltrigen zwei linke Hände haben.
Die Idee dahinter ist einfach: Zu jedem Beruf, zu jedem Job gibt es ein Anforderungsprofil. Diese können Sie mit Ihrem Fähigkeitenprofil vergleichen und dort wo es die größte Übereinstimmung gibt, gehören Sie hin.
Das wirkt einleuchtend, hat jedoch ein paar grundlegende Mängel: Jede noch so aufwändige Testbatterie reduziert Sie auf diejenigen Informationen, die durch die entsprechenden Tests mehr oder weniger genau gemessen werden können. Es entsteht ein lebloses digitales Profil.
Auch die Anforderungsprofile für Berufe und Arbeitsstellen sind leblos. So ist es nicht verwunderlich, dass viele Stellensuchende eine ganz instinktive Abneigung gegen Stellenanzeigen hegen. Wir sind Menschen und nicht nur ein Bündel von Fähigkeiten, die zur Erfüllung einer bestimmten Funktion notwendig sind. Uns in Inseraten als Menschen anzusprechen ist offenbar schwierig und äußerst selten.
In Laufbahnberatungen kommt noch eine zusätzliche Schwierigkeit dazu. Vor allem Neigungs-Tests konfrontieren uns mit einer Vielzahl von Fragen die wir – gefühlt – immer auch anders hätten beantworten können.
Dann werden Sie mit einer Aussage konfrontiert. Zum Beispiel: „Aufgrund Ihres Profils sollten Sie sich überlegen, diese oder jene berufliche Richtung einzuschlagen.“ Vielleicht sind Sie offen für diese Information. Je mehr Sie sich damit auseinandersetzen, umso stärker wird Ihre Begeisterung. Dann wissen Sie: Die Beratung hat funktioniert und Sie haben Ihr Geld gut investiert.
Vielleicht stimmt Ihr Profil jedoch mit einer Berufsrichtung überein, für die Sie sich überhaupt nicht erwärmen können. Vielleicht sind Sie auch einfach unsicher, weil Sie den Mechanismus hinter den Tests nicht kennen und nicht verstehen können. Bei vielen Fragen hätten Sie das Kreuzchen auch bei einer anderen Antwort machen können. Wäre dann vielleicht etwas ganz anderes herausgekommen?
Daher können sich viele Menschen nicht mit den Ergebnissen von Tests identifizieren. Das liegt auch daran, dass Testentwickler aus kommerziellen Gründen oft ein großes Geheimnis aus eigentlich banalen Funktionsweisen machen.
Tests können uns daher Anregungen geben, sie nehmen uns jedoch keine Entscheidungen ab. Diese reifen meist langsam und sind verbunden mit einer Positionierung, mit einem „ja genau, so bin ich“. Unsere Werte, unsere Neigungen und unsere Bedürfnisse zu kennen ist die Grundlage für einen selbstbestimmten Entscheidungsprozess. Die Konsequenzen aus diesem Wissen ziehen wir jedoch erst, wenn wir uns mit dieser Erkenntnis auch identifiziere. Die Antworten auf die drei wichtigen Fragen in einem beruflichen Veränderungsprozess:
- Wer bin ich?
- Was kann ich?
- Wohin will ich?
können uns keine Tests abnehmen. Sie können höchstens Hinweise geben und im besten Fall den Blickwinkel erweitern.
Dieser Beitrag ist ein Auszug aus dem Buch „Tu, was du wirklich, wirklich willst. Die Alchemie der Berufsnavigation„
Hier noch ein Zusatz aus meinem Newsletter von Dezember 2020
Warum Tests in der Laufbahnberatung überschätzt werden
Drei Gründe für ein prozessorientierteres Vorgehen
Testen, testen, testen ist ein Mantra unserer Zeit. Nein, ich spreche nicht von PCR- oder Antigen-Tests, sondern meine die Neigungs- und Eignungstests in der Berufs- und Laufbahnberatung. Es gibt drei gute Gründe, warum diese überschätzt werden:
1) Statistik und Individuum
In der Forschung macht Statistik Sinn. Aus kleinsten signifikanten Unterschieden können wertvolle Erkenntnisse gewonnen werden.
Wie sieht es jedoch aus, wenn wir nicht große Gruppen, sondern Einzelpersonen im Blick haben. Woher weiß ich als Individuum, ob mein Resultat tatsächlich einen validen Treffer liefert oder ob ich einer der – je nach Testkonstellation gar nicht so seltenen – statistischen Ausreißer bin?
2) Identifikation mit dem Ergebnis
Nachdem ich auf 120 Fragen mit «Trifft zu» oder «Trifft nicht zu» in verschiedenen Abstufungsgraden geantwortet habe, erhalte ich ein Resultat präsentiert. Den dahinterliegenden Algorithmus kenne ich als Laie nicht. Oft wird er auch aus kommerziellen Gründen geheim gehalten. Jetzt komme ich ins Zweifeln: Hätte ich bei der einen oder anderen Frage, bei der ich gezögert habe, anders geantwortet, wäre vielleicht etwas ganz Anderes herausgekommen. Kurz: Ich werde mich wahrscheinlich weniger mit dem Resultat identifizieren, als wenn der Prozess für mich nachvollziehbar gewesen wäre.
3) Prozess- versus Fachberatung
Eine Beratung die Testung ins Zentrum stellt, wird eher als Fachberatung angelegt sein: Man sitzt einer Person gegenüber, die einem sagt, wie man ist und was die sinnvollen nächsten Schritte sind. Viele KlientInnen wünschen sich das auch. Meine Erfahrung zeigt jedoch, dass eine Fachberatung in den meisten Fällen zu kurz greift. In einer beruflichen Neuorientierung brauchen Menschen eine Begleitung, die auf die individuelle Situation und auch auf Bereiche des Lebens eingeht, die sich nicht in psychometrische Raster pressen lässt.
-> Wer sich trotzdem einmal durch eine Reihe gut gemachter Tests arbeiten möchte, kann das hier kostenlos machen.